Zwischen Karlsruhe und Luxemburg

HOAI-Mindestsätze zwischen Privatparteien?


Der Europäische Gerichtshof hat vergangenes Jahr festgestellt, dass die Mindestsatzregelung der deutschen HOAI gegen EU-Recht verstößt? Was bedeutet diese Entscheidung für Privatparteien? Auch der Bundesgerichtshof ist sich nicht sicher.

Fundstelle:

BGH, Beschluss vom 15.05.2020, VII ZR 174/19

Sachverhalt

Ein Ingenieur vereinbart mit einem Auftraggeber Planungsleistungen für ein Bauvorhaben mit einer Pauschalvergütung von knapp 55.000 Euro. Nachdem der Ingenieur den Vertrag später gekündigt hat, rechnet er auf Basis der Mindestsätze ab und legt seine Schlussrechnung über fast die doppelte Summe, knapp 103.000 Euro.

Das Landgericht korrigiert die Rechnung geringfügig und verurteilt den Bauherrn zur Zahlung von etwa 100.000 Euro. In das anschließende Gerichtsverfahren vor der Berufungsinstanz fällt die Entscheidung des EuGH vom 04.07.2019. Das OLG hat dennoch entschieden, dass der Ingenieur nach den Mindestsätzen abrechnen dürfe und hat (unter erneuter geringfügiger Korrektur) den Bauherrn zur Zahlung von knapp 97.000 Euro verurteilt.

Der Beklagte steht auf dem Standpunkt, dass die Honorarpauschale gilt, weil die Mindestsätze durch den EuGH für unwirksam erklärt wurden. Er möchte nicht mehr als 55.000 Euro bezahlen.

Zu Recht?

Problematik

Die deutsche HOAI sieht nach ihrem Wortlaut vor, dass Architekten und Ingenieure mindestens das Honorar abzurechnen haben, das sich aus der Art der Leistung, dem Umfang von Auftrag und Tätigkeit, den anzurechnenden Kosten des Bauwerks und Nebenforderungen errechnet. Somit soll ein ruinöser Preiswettbewerb verhindert werden, indem Architekten- und Ingenieurleistungen jedenfalls mindestens einen gewissen Honorarwert aufweisen, der Wettbewerb der Berufsträger also nach der Qualität erfolgen soll, und nicht nach Preisunterbietungen. Letztlich soll hierdurch eine auskömmliche planerische Arbeit gesichert werden, was sich in der Qualität (und Stabilität) der Bauwerke auswirken soll.

Die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) sieht daher in § 7 vor, dass Vereinbarungen unwirksam sind, durch die eine Honorierung vorgesehen wird, die unterhalb der objektiven Mindestpreise der HOAI verbleibt. In der Praxis bedeutet (bedeutete?) dies, dass ein Architekt oder Ingenieur sich nach Vertragsschluss jederzeit auf diese Unwirksamkeit berufen kann (konnte?) – mit dem für ihn angenehmen Effekt, nachträglich einen höheren Honoraranspruch berechnen und durchsetzen zu können. Die eindeutige Entscheidung der ersten Instanz reflektiert die bisherige Rechtsprechung aller Gerichte.

Und dann kam der Europäische Gerichtshof.

Am 4. Juli 2019 entschied er in Rechtssache C-377/17 in einem Vertragsverletzungsverfahren zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland: In der EU-Dienstleistungsrichtlinie aus 2006 ist geregelt, dass alle Mitgliedsstaaten ihre nationalen Vorschriften prüfen müssten, die u.a. Mindestpreise für Dienstleistungen regeln. Der freie Wettbewerb der Dienstleister über alle Landesgrenzen der EU hinaus müsse auch einen Preiswettbewerb ermöglichen, was bei Mindestpreisgesetzen nur zulässig ist, wenn es einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ gibt. Die Dienstleistungsrichtlinie wollte dabei ausdrücklich sogar (vorübergehend) unauskömmliche Dienstleistungspreise ermöglichen, die einem Anbieter in einem anderen Mitgliedsland einen Markteintritt durch Preiswettbewerb gestattet. Die deutsche HOAI widerspricht dieser Vorstellung eindeutig, sodass die Frage zum EuGH gekommen war, ob sie gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstößt.

Dies bejahte der EuGH. Zwar könnten die Mindestsätze im Hinblick auf die Beschaffenheit des deutschen Markts grundsätzlich dazu beitragen, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten und die angestrebten Ziele (Qualität der Arbeiten, Verbraucherschutz, Bausicherheit, Erhaltung der Baukultur, ökologisches Bauen) zu erreichen. Aber diese deutsche Regelung gelte nicht für alle Planer – und weil Planungsleistungen von Dienstleistern erbracht werden könnten, die nicht ihre entsprechende fachliche Eignung nachgewiesen hätten, fehle es an der „Kohärenz“ (etwa: Synchronität, Nachvollziehbarkeit) der deutschen Regelungen, ohne dass es hierfür einen Grund gebe.

Über die Folgen dieser Entscheidung entbrannte hiernach ein gehöriger Streit zwischen den Juristen in Deutschland. Es wurde teilweise vertreten, dass zwar § 7 Abs. 1 HOAI (auf den der EuGH sich konkret bezog) unwirksam sei, § 7 Abs. 5 HOAI (Geltung der Mindestsätze) aber gelte fort. Andere Stimmen halten alle Mindestpreisregelungen für unwirksam und lesen die HOAI so, als stünden alle Sätze mit Minestpreischarakter nicht drin. Wieder andere Stimmen halten das Urteil nur für wirksam zwischen der EU und Deutschland, nicht aber zwischen privaten Parteien wie einem privaten Auftraggeber und einem privaten Architekten oder Ingenieur.

Einige Oberlandesgerichte folgten einigen dieser Meinungen in den Monaten seit der EuGH-Entscheidung – so auch vorliegend das OLG Hamm (Urteil vom 23.07.2019, 21 U 24/18) in einer der ersten Entscheidungen.

Es folgte (wie z.B. auch das OLG Celle) der Argumentation, das Urteil des EuGH gelte nur zwischen der EU(-Kommission) und der Bundesrepublik Deutschland. Es sei in einem Vertragsverletzungsverfahren ergangen und stelle nur fest, dass Deutschland die Dienstleistungsrichtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe. Diese entfalte gegenüber dem einzelnen EU-Bürger (oder Unternehmer) keine unmittelbare Wirkung – es gebe keinen Vorrang der Dienstleistungsrichtlinie gegenüber der deutschen HOAI.

Das OLG Hamm lies die Revision zum Bundesgerichtshof zu, da (erkennbar) eine einheitliche Rechtsprechung für Deutschland nur durch eine dortige Entscheidung erreicht werden kann.

Entscheidung

Der Bundesgerichthof nun hat für sich festgestellt, diese Frage nicht eindeutig beantworten zu können.

Er hat daher den Fall unterbrochen und einigen konkrete Fragen an den Europäischen Gerichtshof gestellt. Dieser prozessuale Weg erfolgt, wenn eine Rechtsentscheidung Europäisches Recht betrifft und der BGH die Kompetenz des EuGH anerkennt, solche Fragen allein und einheitlich zu klären. Die Antwort der EuGH wird dann zur Leitplanke der anschließenden BGH-Entscheidung; so wird sichergestellt, dass der BGH europarechtliche Fragen nicht „gegen“ den EuGH entscheidet. Dies ist letztlich auch für die Rechtssicherheit in Deutschland relevant, da ansonsten spätere Entscheidungen des EuGH in identischer Rechtsfrage ergehen könnten, die frischen BGH-Entscheidungen widersprächen.

Die erste Frage an den EuGH möchte erforschen, ob die Dienstleistungsrichtlinie auf den einzelnen Bürger (Unternehmer) unmittelbare Wirkung entfaltet. Es ist letztlich die Frage, ob § 7 HOAI zwischen Privatpersonen unanwendbar (geworden) ist.

Der Bundesgerichtshof hat sich sodann überlegt, dass der EuGH ja antworten könnte, dass keine unmittelbare Wirkung besteht – und dennoch die wörtliche HOAI-Fassung gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstoßen könne. Also hat er in der zweiten Frage diesen Aspekt direkt mit zur Klärung gegeben: verstoßen die verbindlichen Mindestsätze der HOAI gegen die Niederlassungsfreiheit oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts? Und wenn ja, schließt sich die dritte Frage des BGH an den EuGH an: wirkt dies dahin, dass § 7 HOAI zwischen Privatpersonen nicht mehr anzuwenden ist?

Die zweite Frage geht über den konkreten Fall hinaus und berücksichtigt die anderen rechtlichen Einwände und Meinungen, die sich seit dem EuGH-Urteil gezeigt haben.

Der BGH will es also wissen, ein für alle Mal: Gilt § 7 HOAI europarechtlich noch, oder ist der Mindestpreischarakter der HOAI durch das Europarecht für Jedermann beendet?

Es ist spannend abzuwarten, was der EuGH aus dieser Vorlage macht.

Der BGH hat in seinem Beschluss auch mitgeteilt, was er erwartet und wie er selbst entscheiden würde: Er sieht keine unmittelbare Wirkung auf Privatpersonen untereinander. Denn eine solche Wirkung würde bedeuten, dass die Umsetzung der Richtlinie europäischen Rechts (vorliegend der Dienstleistungsrichtlinie) durch ein Mitgliedsland den Bürgern des Landes untereinander Rechte und Pflichten gewährte – wir alle müssten untereinander solche Regelungen einhalten und umsetzen. Die Umsetzung solcher EU-Richtlinien ist aber Aufgabe der Länder, die in ihren nationalen Gesetzen den Bürgern (und Unternehmern) Rechte und Pflichten mitteilten. Dies ist bei EU-Verordnungen übrigens anders, die unmittelbar gelten, wenn nationale Gesetzgeber nicht eigene Gesetze schaffen – eine solche Verordnung ist aber vorliegend nicht Teil der Diskussion.

Der BGH werde also vermutlich die Mindestsätze weiterhin anwenden und sie unterschreitende Vereinbarungen für unwirksam erklären – bis der deutsche Verordnungsgeber die HOAI anpasse.

Auswirkung für die Praxis

Die Vorlagefragen betreffen ausdrücklich „laufende Gerichtsverfahren“. Der deutsche Verordnungsgeber ist bereits damit befasst, die HOAI anzupassen. Alle Verträge, die bis dahin geschlossen wurden und noch geschlossen werden, unterliegen formell der Geltung der aktuellen HOAI mit seinem (wörtlichen) § 7.

Es ist also bis auf Weiteres keine Rechtssicherheit anzunehmen. Der EuGH braucht mindestens ein Jahr (nach Erfahrungswerten), sodass noch für viele Monate nicht sicher ist, ob Vereinbarungen von Honoraren unterhalb der objektiven Preisvorgaben der HOAI wirksam sind oder nicht – und ob Architekten oder Ingenieure nachlaufend unter Berufung auf § 7 HOAI höhere Honorare fordern können. Durchsetzen werden sie diese eher nicht – denn die Gerichte werden nicht rechtswirksam „gegen“ den Vorlagebeschluss des BGH entscheiden, sondern ggf. die Klageverfahren aussetzen, bis der EuGH und nachlaufend der BGH die Richtung vorgeben.

Nimmt man die Gedanken des BGH an, ist im Wege der privaten Autonomie gestattet, die Geltung von § 7 HOAI im Vertrag zu vereinbaren – nur, wenn die Dienstleistungsrichtlinie unmittelbar auf private Verträge durchschlagen sollte, wären diese frei verhandelten Regelungen auch unwirksam. Ob sich allerdings private Auftraggeber auf solche Regelungen einlassen werden, ist nicht ohne Weiteres zu erwarten.

Wie der EuGH entscheiden wird, ist komplett offen. Er muss sich nicht an die mitgeteilten Gedanken des BGH halten – es kann also vorerst gewürfelt werden, wie sich laufende Verträge und Verfahren entwickeln. Künftig wird aber wohl ein Durchhalten der Mindestpreispläne Deutschlands kaum gelingen können, sodass es sicherlich vernünftig ist, bereits jetzt Honorarvereinbarungen abzuschließen, die man nicht nachlaufen für unwirksam beansprucht – oder allseits Honorare vereinbart und zahlt, die dem Preiskorridor der HOAI entsprechen.

___________________________________

Autor der Veröffentlichung: RA Heiner Endemann

Autor der Veröffentlichung: RA Heiner Endemann

Disclaimer

Die PSP Rechtsanwälte veröffentlichen diesen Text als Übersicht zum Thema. Der Artikel erhebt nicht den Anspruch, die Rechtsfrage vollständig, erschöpfend oder abschließen zu beantworten; er ist nicht allgemeingültig. Es bedarf einer Einzelfallprüfung zur Feststellung der Übertragbarkeit auf andere Sachverhalte. Der Artikel reflektiert die Rechtslage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung; spätere Änderungen sind naturgemäß nicht eingeschlossen; eine aktualisierende Überarbeitung des Artikels erfolgt grundsätzlich nicht. Daher übernehmen die PSP Rechtsanwälte keinerlei Haftung für den Inhalt des Artikels, die Übertragbarkeit auf andere Lebenssachverhalte oder Nachteile, die jemanden aus dem Vertrauen auf den Inhalt entstehen.

Der Artikel unterliegt unserem Urheberrecht; es bleiben alle Rechte vorbehalten. Wir geben die Weiterleitung und Veröffentlichung frei zur Weiterleitung und anderweitigen Veröffentlichung in Internet-Portalen unter den Bedingungen, dass sie unverändert bleiben, unser Name als Urheber genannt wird, und auf unsere Homepage https://www.psp.law verlinkt wird. Eine kommerzielle Nutzung (Entgeltlichkeit des Zugriffs) ist nicht gestattet. Soweit hier nicht modifiziert gelten im Übrigen die Bedingungen CC-BY-NC-ND 3.0 DE der Creative Commons .

Stand: Mai 2020

Impressum

Verantwortlich i.S.d. § 5 TMG für den redaktionellen Inhalt:

PSP Rechtsanwälte Köln Sedanstr. 2 50668 Köln

Telefon: +49 221 921228 – 0 Telefax: +49 221 921228 – 50 E-Mail: Hier klicken Internet: https://www.PSP.law/

Vertretungsberechtigte: Rechtsanwalt Dr. Joachim Pietzko, Rechtsanwalt Christoph Siekmann, Rechtsanwältin Dr. Gabriele Pietzko, Rechtsanwalt Heiner Endemann, Rechtsanwalt Prof. Dr. Georg Jochum, alle Sedanstraße 2, 50668 Köln

USt-Id.-Nr. DE 215404407

Zuständige Aufsicht: Rechtsanwaltskammer Köln, Riehler Str. 30, 50668 Köln

Die gesetzliche Bezeichnung „Rechtsanwalt“ bezieht sich auf die geschützte deutsche Berufsbezeichnung. Alle Berufsträger/Rechtsanwälte der Kanzlei gehören der Rechtsanwaltskammer Köln an und sind als solche in Deutschland zugelassen.

Es gelten u. a. folgende berufsrechtliche Regelungen: (vollständige Auflistung der Berufsregelungen über die Bundesrechtsanwaltskammer, dort unter „Berufsrecht„): • Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), • Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA), • Fachanwaltsordnung (FAO), • Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG), • Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Union (CCBE-Berufsregeln), • Berufsrechtliche Ergänzungen zum Geldwäschebekämpfungsgesetz (GwG), • Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer.

Die Berufshaftpflichtversicherung besteht bei der Allianz Versicherungs-AG in 10900 Berlin. Der räumliche Geltungsbereich des Versicherungsschutzes umfasst Tätigkeiten in den Mitgliedsländern der Europäischen Union und genügt so mindestens den Anforderungen des § 51 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO).

Hinweise: Streitbeilegung: Wir weisen auf die Plattform der EU zur außergerichtlichen Online-Streitbeilegung hin, auch wenn wir einen Vertragsschluss über die Homepage ausdrücklich nicht vorsehen. Bei Streitigkeiten zwischen Rechtsanwälten und Mandanten besteht die Möglichkeit der außergerichtlichen Streitschlichtung auf Antrag bei der zuständigen Rechtsanwaltskammer (§ 73 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 BRAO). Eine weitere Möglichkeit der außergerichtlichen Streitbeilegung besteht bei der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft bei der Bundesrechtsanwaltskammer (§ 191 f BRAO).

Stand: Mai 2020