Morituri te salutant – not dead yet …

Der Europäische Gerichtshof und die HOAI


Der Europäische Gerichtshof hat am 4. Juli 2019 entschieden: „Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt verstoßen, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat.“

Was bedeutet das?

Fundstelle:
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 4. Juli 2019, Rechtssache C-377/17 [ECLI:EU:C:2019:562]


Problematik

Bereits 2006 wurde eine EU-Richtlinie erlassen, in der sich einige Zeilen besonderer Brisanz befinden. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123/EG lautet:

Diese Richtlinie gilt für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden.“

Hierbei wird – und darauf kommt es später an – nicht unterschieden zwischen Personen oder Einrichtungen, die solche Dienstleistungen erbringen; die Richtlinie bemisst sich an der Handlung als solcher, der Dienstleistung.

In Art. 15 der Richtlinie 2006/123/EG heißt es (auszugsweise):

„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.

(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:

g)      der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;

(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:

a)      Nicht-Diskriminierung: [D]ie Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;

b)      Erforderlichkeit: [D]ie Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c)      Verhältnismäßigkeit: [D]ie Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.

Diese Vorgaben waren bis Ende 2009 in nationales Recht der EU-Mitgliedsstaaten umzusetzen. Tatsächlich wurde die HOAI mehrfach geändert, zuletzt 2013. Der Verordnungsgeber ist also tätig geworden, nachdem die Richtlinie 2006/123/EG erlassen wurde. Er hat auch der Richtlinie entsprechen wollen, als er den Anwendungsbereich auf in Deutschland niedergelassene, nicht jedoch für alle anderen auf dem deutschen Markt tätigen Architekten und Ingenieure festgesetzt hat und damit eine „Inländer-HOAI“ schuf.

Hat er damit alle seine Aufgaben nach der Richtlinie erfüllt?


Entscheidung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) meint: Nein, Deutschland hat seine Aufgabe nicht erfüllt, und deshalb wurde ein Vertragsverletzungsverfahren zu Recht angestrengt.

Die entscheidenden Vorgaben die als geltendes Preisrecht verankerten Mindest- und Höchstsätze des  § 7 HOAI (auszugsweise):

„(1) Das Honorar richtet sich nach der schriftlichen Vereinbarung (…) im Rahmen der durch diese Verordnung festgesetzten Mindest- und Höchstsätze (…).

(3) Die in dieser Verordnung festgesetzten Mindestsätze können durch schriftliche Vereinbarung in Ausnahmefällen unterschritten werden.

(4) Die in dieser Verordnung festgesetzten Höchstsätze dürfen nur bei außergewöhnlichen oder ungewöhnlich lange dauernden Grundleistungen durch schriftliche Vereinbarung überschritten werden. …“

Diese Vorschriften sollen den Vertragsparteien die ansonsten grundsätzliche Freiheit nehmen, für bestimmte Architekten- und Ingenieurleistungen die Preise frei zu bestimmen und zu vereinbaren.

Dies sollte nach der Vorstellung des Verordnungsgebers den Architekten und Ingenieuren ein auskömmliches Honorar sichern und einen (ggf. ruinösen) Preiswettbewerb verhindern. Es wurde unterstellt, dass ein solcher Wettbewerb zu Lasten der Qualität von Bauplanung, Ausschreibung, Vergabe und Bauüberwachung ginge, was letztlich im Schutz der Bevölkerung zu verhindern sei. Es solle ein Wettbewerb der Qualität stattfinden, kein Wettbewerb des Preises.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte mit dieser Argumentation die Mindest- und Höchstpreise verteidigt.

Der Generalanwalt beim EuGH (der die Klage vertrat) sah dies anders. Es sei eben nicht gesichert, dass Mindestpreise erforderlich seien, um die Qualität zu sichern.

Der EuGH hat hier differenziert: Anders als der Generalanwalt hielt der 4. Senat es durchaus für möglich, dass Mindestsätze im Hinblick auf die Beschaffenheit des deutschen Markts grundsätzlich dazu beitragen könnten, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten, und die angestrebten Ziele (Qualität der Arbeiten, Verbraucherschutz, Bausicherheit, Erhaltung der Baukultur, ökologisches Bauen) zu erreichen.

Dennoch hat der EuGH die Mindestsätze für unvereinbar mit EU-Recht gesehen: weil Deutschland sie nicht „kohärent und systematisch“ vorgebe. Der Vorwurf ging insbesondere dahin, dass in Deutschland Planungsleistungen von Dienstleistern erbracht werden können, die nicht ihre entsprechende fachliche Eignung nachgewiesen haben. Gemeint sind hierbei u.a. Innenarchitekten, Garten- und Landschaftsbauer oder Bauträger, um einige Beispiele aufzuführen. Aber auch Handwerker selbst sind oftmals Planer der eigenen Leistung in einer Weise, die eigentlich auch den Vorschriften der HOAI unterfallen. Für solche Leistungen gelten im Übrigen nicht nur keine Mindestsätze zur Vergütung, sondern auch keine anderen Vorgaben des Staates, um eine Mindestqualität zu sichern.

Die deutsche Regelung, die Mindestsatzbegründung der HOAI nicht auf alle solche Leistungen auszudehnen, lässt nach Auffassung des EuGH im Hinblick auf das mit den Mindestsätzen verfolgte Ziel, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu erhalten, eine Inkohärenz in der deutschen Regelung erkennen.

Auch zu den Höchstsätzen hat das Urteil eine (ablehnende) Meinung: Diese könnten durchaus zum Verbraucherschutz beitragen, indem die Transparenz der von den Dienstleistungserbringern angebotenen Preise erhöht wird, und die Dienstleister daran gehindert werden, überhöhte Honorare zu fordern.

Hier wurde der Bundesrepublik Deutschland also attestiert, dass eine solche Regelung sinnvoll sein mag. Allerdings fehlte es hier an der Begründung, warum keine andere Maßnahme adäquat eine Transparenz der Honorare erreichen könne. Aus diesem Grund wurden auch die Höchstsätze verworfen.

Letztlich hat der Europäische Gerichtshof damit beurteilt, dass die Festsetzung von Mindest- und Höchstsätzen in der HOAI gegen geltendes EU-Recht verstoßen.


Auswirkung für die Praxis

Der EuGH beerdigt die HOAI“ war nach Urteilsverkündung zu lesen. So ist es nicht.

  • Die HOAI ist (bis der deutsche Verordnungsgeber tätig wird) weiterhin in Kraft und mit einer einzigen Ausnahme auch wirksam und anzuwenden: Nur der verbindliche Preisrahmen des § 7 Abs. 1 HOAI ist unanwendbar, wirkungslos.
  • Soweit bei Auftragsvergabe innerhalb des Rahmens der HOAI-Systematik Preise ausdrücklich vereinbart wurden oder werden, sind und bleiben diese Vereinbarungen (zivilrechtlich) wirksam.
  • Preise unterhalb der Mindestsätze dürfen (wirksam) vereinbart werden. Das bedeutet auch, dass solche Vereinbarungen nicht weiter ausgehebelt werden können, indem später das höhere Honorar der Mindestsätze trotz vorheriger niedrigerer Vereinbarung geltend gemacht wird (sog. „Aufstockungsklagen“) – dieses spezielle Geschäftsmodell ist tatsächlich durch den EuGH beerdigt worden.
  • Bieter in Vergabeverfahren sind nicht mehr per se auszuschließen, nur weil sie unterhalb der Mindestsätze anbieten. Ob die hierdurch denkbaren „billigsten“ Angebote aber auch stets die „günstigsten“ Angebote nach den Vorstellungen des Vergaberechts sind, wird von den Vergabestellen strikt zu prüfen sein – das Qualitätsinteresse der Bauherren ist durch den EuGH ausdrücklich anerkannt worden, was sich auch bei der Bewertung von „Billiganbietern“ verwenden lassen wird.
  • Ist bei Auftragsvergabe kein Honorar vereinbart, gelten nach bisher herrschender Auffassung der kommentierenden Juristen wohl die Mindestsätze nach § 7 Abs. 5 HOAI weiterhin als vereinbart; diese gesetzliche Fiktion ist vom EuGH nicht „kassiert“ worden. Der vom EuGH geforderte Wettbewerb ist ja gerade durch Anpreisung, Angebot und Vereinbarung niedrigerer Preise zu gestalten, nicht durch passives Nichtbehandeln der Honorarfrage.
  • Auch die übrige HOAI ist nicht betroffen – die Leistungsbilder und die Honorartabellen sind durch das Urteil nicht betroffen, auch nicht „außer Kraft gesetzt“, wie man bisweilen lesen konnte. Allein Vereinbarungen unter den Mindest- und über den Höchstsätzen sind zugelassen worden.

Letztlich betrifft das Urteil also nur diejenigen Fälle, in denen bei Auftragsvergabe (schriftlich) eine Honorarvereinbarung getroffen wird, die den Rahmen der HOAI-Mindest- oder Höchstsätze verlässt.

Das ist zwar eine erhebliche „Verletzung“ der bisherigen HOAI-Systematik, aber weder deren Tod noch deren Abgesang.

Das Urteil des EuGH in deutscher Sprache auf der EU-Seite curia.europa.eu: https://t1p.de/or9p

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Anmerkung: Die Überschrift verweist auf den vorgeblichen Gruß römischer Gladiatoren an Caesar („die Todgeweihten grüßen dich“) und auf den Titel der Abschiedstournee des britischen Rockmusikers Phil Collins.

Autor der Veröffentlichung: RA Heiner Endemann


Autor der Veröffentlichung: RA Heiner Endemann

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Stand: Juli 2019

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Stand: Juli 2019