Groß oder klein – wer weiß das schon?

Abnahme ohne Mangelvorbehalt – Anscheinsbeweis der Mangelkenntnis


Welche Anforderungen werden an die Kenntnis eines Mangels gestellt, der bei der Abnahme nicht vorbehalten wurde?

Fundstellen:
Kammergericht Berlin, Urteil vom 25.11.2016, 21 U 31/14 – BGH, Beschluss vom 07.11.2018 – VII ZR 310/16 (Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen)

Sachverhalt (vereinfacht)

Bei einem Großbauvorhaben sollen an Strahlventilatoren Warnschilder angebracht werden. In den Vertragsunterlagen ist ein Text vorgegeben: „Schwere Klappe. Vorsicht beim Öffnen!“. Die insgesamt 18 Schilder werden durch den Unternehmer ausgefertigt und angebracht mit dem Text „Schwere Klappe. Vorsicht beim öffnen!“.

Im Abnahmeprotokoll wird diese Abweichung nicht angesprochen.

Später fordert der Auftraggeber die Nachbesserung – gemeinsam mit vielen anderen Mangelpositionen, die im Abnahmeprotokoll aufgeführt sind – und behält mehr als 200 000 Euro Werklohn zurück; auf die 18 Schilder entfallen etwa 1.350 Euro.

Der Auftraggeber behauptet, bei der Abnahme keine Kenntnis von dieser Abweichung der Schilder gehabt zu haben.

Der Unternehmer verklagt ihn, u.a. auch auf Zahlung der 1.350 Euro für die 18 Schilder.

Zu Recht?

Problematik

Es geht um den Verlust des Nacherfüllungsrechts bei „bewusster Abnahme eines Mangels“.

Die zentrale Vorschrift zur Abnahme im Bürgerlichen Gesetzbuch ist § 640 BGB, der in Absatz 3 normiert:

Nimmt der Besteller ein mangelhaftes Werk […] ab, obschon er den Mangel kennt, so stehen ihm die [Nacherfüllungs-, Selbstvornahme-, Rücktritts- oder Minderungsrechte] nur zu, wenn er sich seine Rechte wegen des Mangels bei der Abnahme vorbehält.

Wer also in Kenntnis der Mangelhaftigkeit die Abnahme erklärt, ohne zugleich kund zu tun, dass er für den Mangel noch Rechte geltend machen wird, verliert diese Rechte. Der Besteller hat dann „den Mangel akzeptiert“ und damit auf seine Rechte verzichtet. Es wäre treuwidrig, erst durch die Abnahme zu erklären, das Werk sei vertragsgerecht, um nachher dann Mangelbehauptungen aufzustellen.

Die hier entscheidende Formulierung dieser Regelung steht im Nebensatz: „obschon er den Mangel kennt“.

Hierbei hat die Rechtsprechung klargestellt: es kommt auf sog. „positive Kenntnis“ an. Der Besteller muss also um den konkreten Mangel wissen, und zwar neben der eigentlichen Existenz des Mangels auf um dessen Bedeutung und Auswirkung. Er muss also auch den Umfang und die Folgen des Mangels kennen. Allerdings muss er nicht Kenntnis über eine Wertminderung oder eine Minderung der Nutzungstaugklichkeit haben; es reicht auch nicht aus, wenn er nur das äußere Erscheinungsbild des Mangels wahrnimmt.

Umgekehrt reicht ein Verdacht nicht aus, nicht einmal ein dringender Verdacht – und vor allem: diese Rechtsfolge tritt nicht ein, wenn der Besteller den Mangel „kennen musste“.

Wenn sich also ein Unternehmer bei einer neuen Mangelbehauptung nach dem Abnahmetermin auf diese Vorgabe berufen möchte – der Besteller habe keine Rechte mehr, weil der Mangel bei Abnahme nicht vorbehalten wurde –, muss er beweisen, dass der Besteller den Mangel kannte.

Dies leuchtet auch unmittelbar ein, wenn man erwägt, ob ansonsten nicht generell jeder Gewährleistungsmangel diesem Einwand begegnen würde. Diese Mängel bestehen ja nach der Systematik des Werkvertragsrechts bei Abnahme alle bereits (im Bauvorhaben angelegt) – sie wären alle mangels Vorbehalts erledigt oder zumindest diskutabel, wenn ein Verdacht oder ein Kennen-Können oder Kennen-Müssen ausreichen könnte.

Daher ist der Fall eigentlich klar gestellt: der Unternehmer muss keine Mangelrechte mehr ausführen, wenn der Besteller den Mangel der 18 Schilder bei Abnahme kannte, weil er sich die Rechte nicht vorbehalten hat.

Der Besteller hat vor der Abnahme nichts getan oder geäußert, aus dem sich diese Kenntnis ergeben hätte; er hat im Prozess vielmehr deutlich ausgesagt, den Mangel nicht gesehen zu haben.

Entscheidung

Das Berliner Kammergericht hat dies vorliegend allerdings anders als der Besteller gesehen und geurteilt, der Unternehmer sei frei von Mangelansprüchen wegen der 18 Schilder, weil er in Kenntnis des Mangels keinen Vorbehalt bei Abnahme erklärt habe.

Es hat hierzu u.a. ausgeführt:

„Es handelt sich hier zwar nur um einen geringfügigen Mangel, der jedoch 18 Mal auftrat und damit auch im Rahmen der Abnahme eines großen Bauvorhabens auffallen musste, zumal sich die Schilder für die Klappen der Strahlventilatoren auf Augenhöhe befinden. Die falsche Schreibweise war ebenfalls offenbar. Die Klappen der Strahlventilatoren waren zudem im Einzelnen Gegenstand der Begutachtung anlässlich der Abnahme, wie sich aus der Anlage 8 zum Abnahmeprotokoll ergibt.“

Daraus schloss das Kammergericht:

„Bei einem sachkundigen Auftraggeber ist trotz gebotener Vorsicht und Zurückhaltung bei einem klar erkennbaren und auch gravierenden Mangel die Überlegung zulässig, dass er diesen Mangel nicht übersehen haben kann.“

Diese Sichtweise überrascht und ist nicht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung zu § 640 Abs. 3 BGB.

Das Kammergericht gestaltet ein „Offenkundigkeitsprinzip“ in diese Vorschrift hinein, die (bisher) dort nicht gesehen wurde. Der Bundesgerichtshof hat dies durch Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde letztlich durchgewunken, sodass davon auszugehen ist, dass dieses zusätzliche Moment nunmehr allgemeine Geltung beanspruchen kann.

Wenn also ein gravierender Mangel tatsächlich offenkundig ist, sodass man davon ausgehen muss, dass ein sachkundiger Auftraggeber ihn nicht übersehen haben kann, kommt dem Auftragnehmer eine juristische Hilfe zu Gute: der Anscheinsbeweis.

Denn: dass der Besteller den Mangel nicht übersehen haben kann, ist immer noch kein Beweis im Rechtssinn dafür, dass er ihn tatsächlich übersehen hat. Aber: es wird dann vermutet, dass er ihn gesehen hat, solange er nicht belegen kann, warum ein Ausnahmefall des Sehens eingetreten ist.

Ein Anscheinsbeweis setzt stets einen Erfahrungssatz voraus, der so überzeugend ist, dass auch ohne alle Einzelheiten des Sachverhalts ansatzweise immer vom Eintreten und Zusammenhang auszugehen ist. Ein bekanntes Beispiel ist der Rechtsgrundsatz des Straßenverkehrs „wer hinten auffährt, hat Schuld.“ Hier ist durch alle Erfahrung belegt, dass eigentlich immer der Nachfolger allein den unfallursächlichen Fehler begangen hat, während dem Vorausfahrenden eigentlich nie ein Vorwurf zu machen ist.

Ein Anscheinsbeweis kehrt die Beweislast um: liegt er vor, muss nunmehr der andere belegen, dass der Erfahrungssatz ausnahmsweise nicht zutrifft. Bei Auffahrunfällen wäre dies z.B. der Beleg, dass der Vorausfahrende über Gebühr und Notwendigkeit extrem abgebremst hat oder sogar rückwärts fuhr (ohne hier jetzt in die Details gehen zu wollen oder zu können).

Einen solchen Anscheinsbeweis sieht das Kammergericht im vorliegenden Fall. Es besteht hiernach der Beweis des ersten Anscheins, dass der Besteller (entgegen seiner Einlassung) den Mangel tatsächlich gesehen hat, seine Tragweite und auch sein Interesse an einer Änderung erkannt hat – und dennoch nichts dazu erklärte.

Damit hätte hier der Besteller nun Tatsachen zu behaupten und ggf. zu belegen gehabt, aus denen sich ergeben hätte, warum ausnahmsweise vorliegend nicht davon auszugehen sei. Dies ist nicht geschehen.

Daher hat die Verteidigung des Bestellers, er habe den Mangel nicht gekannt, nicht ausgereicht. Das Gericht hat die Kenntnis des Mangels wegen seiner Offenkundigkeit für den sachkundigen Besteller angenommen – und damit die Rechtsfolge aus § 640 Abs. 3 BGB ausgeurteilt: die Mangelrechte sind verloren.

Damit musste der Besteller die 18 Schilder bezahlen und konnte keine Ansprüche entgegenstellen.

Auswirkung für die Praxis

Die Entscheidung ist spannend.

Sie verändert zunächst die Rechtslage zum Mangelvorbehalt bei Abnahme, wenn bei sachkundigen Auftraggebern ein Anscheinsbeweis bei offenkundigen Mängeln eingeführt wird. Die Lage für Auftragnehmer wird hierdurch deutlich verbessert, da es nicht ohne Weiteres vorstellbar ist, welche Tatsachen gegen diesen Anscheinsbeweis vorgetragen werden können, ohne eine Ausnahmesituation beizubehalten. Denn: allgemeingültig kann diese Annahme wohl nicht sein, da sie der Vorgabe des BGB deutlich widerspricht und daher nur in Ausnahmefällen zum Tragen kommen kann.

Hierbei ist anzumerken, dass unter der Geltung der VOB/B gleiches gilt, da nach allgemeiner Auffassung § 640 Abs. 3 BGB neben den (hierzu schweigenden) Regelungen des § 12 VOB/B Anwendung findet.

Die Entscheidung zeigt aber vor allem, dass das Bauvertragsrecht sich insgesamt in einem steten Wandel befindet. Auch rechtliche Annahmen, die jahrzehntelang unwidersprochen gegolten haben, können kurzfristig anders gestaltet werden und künftig gravierend anders zu sehen sein.

Es bleibt daher auch vorliegend abzuwarten, wie die kaufrechtlichen Gerichte in Deutschland mit dieser Werkvertragsentscheidung umgehen werden, da im Kaufrecht der gleiche Ansatz für Mangel der Kaufsache gilt – dort ist (bisher) nicht von einem Anscheinsbeweis ausgegangen worden, wenn ein sachkundiger Käufer einen offensichtlichen Mangel bei Empfang der Sache nicht moniert.

Auftragnehmern jedenfalls steht im Werkvertragsumfeld eine nutzbare neue Idee zur Seite.

Autor der Veröffentlichung: RA Heiner Endemann


Autor der Veröffentlichung: RA Heiner Endemann

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Stand: Mai 2019

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Stand: Mai 2019